Beispiel für einen gelungenen Integrationsansatz

Im vergangenen Jahr reisten mehr als 2400 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in die Schweiz ein. Das ist die Geschichte von fünf jungen Afghanen, die seither auf dem Velo die Schweiz kennengelernt haben.

Vor gut einem Jahr gelangen fünf junge erwachsene Männer von Afghanistan in die Schweiz. Sie haben die rund 6000 km hauptsächlich zu Fuss zurückgelegt und können bei ihrer Ankunft in der Schweiz weder lesen noch schreiben. Sie haben sich allen Gefahren ausgesetzt mit dem Ziel vor Augen, Geld zu verdienen in der Schweiz.

Ein Jahr später erreichen diese fünf jungen Männer zusammen ein bewundernswertes Ziel: Sie durchqueren die Schweiz aus eigener Kraft – mit den Velos und zu Fuss. Die Eindrücke der fünf Schüler aus der Fremdsprachenintegrationsklasse in Aesch BL sind durchwegs positiv und die Erlebnisse sind einmalig.
 

Integration zwischen Aesch und Bellinzona

- Von Aesch BL bis nach Bellinzona
- 11 Etappen
- 320 km
- 9‘000 Höhenmeter
- Durchquerung Jura und Alpen über 4 Pässe.

Gerhard Weber hat mit seiner Fremdsprachenintegrationsklasse, den fünf jungen Afghanen im Alter von 17 Jahren, Unglaubliches wahr gemacht. Sie durchqueren die Schweiz mit dem Velo und zu Fuss und setzen dabei auf eine unkonventionelle Lern- und Integrationsmethode: Praktische Erfahrungen draussen in der Natur ergänzen fachliche und überfachliche Lernmöglichkeiten.

Sie bauen nicht auf der Wortsprache auf, vielmehr helfen sie, Sprechen, Schreiben, Lesen und Verstehen körpersprachlich aufzubauen. Dadurch eignet sich die Velowanderung für schulunerfahrene, fremdsprachige Schüler besonders gut.


Bei der Routenplanung die Schweiz entdeckten

Jede Etappe bereitet Gerhard Weber zusammen mit seinen Schülern vor und nimmt dabei die Landkarte zu Hilfe. So wissen die Schüler über Kilometer, Höhenmeter, Zeitdauer und Pausen Bescheid, und nebenbei lernen sie Kantone, Orte, Flüsse und Pässe kennen.

Der Endpunkt jeder Etappe ist sogleich der Ausgangspunkt für die nächste Etappe, 11 Etappen im Ganzen. Doch statt wie geplant beim Schulhaus mit den Velos zu starten, müssen sie als erstes die vier Alpenetappen zurücklegen, um der Wintersperre zu entkommen. Grund sind Lieferprobleme der Schulvelos, die erst im Dezember statt zu Schuljahresbeginn im August eintreffen.

So wandern sie im September von Guttannen bis All’ Aqua im Tessin über die beiden Pässe Grimsel und Nufenen. Die Veloetappen fahren sie an einzelnen Tagen von Januar bis Mai 2023, jeweils mit dem Zug zum Ausgangspunkt und abends wieder nach Hause.

Gut ausgerüstet rollen sie unfallfrei durch kalte Winterlandschaften. Am Lungernsee treffen sie auf riesige Eiszapfen, was Naqibullah besonders fasziniert. Popal findet die gefrorenen Wasserfälle bei Innertkirchen wunderschön.


Auch während der kalten Wintermonate war das Velo im Einsatz.

 

Zusammen statt allein

Um in die Schweiz zu gelangen, waren die jungen Afghanen auf sich allein gestellt. Eine Velotour in einer Gruppe jedoch ist ein Teamprojekt. Sie warten aufeinander, bis alle aufschliessen und fahren möglichst hintereinander im selben Tempo.

Sie üben pünktlich zu sein, um den Zug nicht zu verpassen. Auf einer Zugfahrt treffen sie auf weitere junge Afghani, die gerade in die Schweiz einreisen. Diese fürchten sich vor der Billettkontrolle und wollen wissen, wie sie weiter nach Frankreich, Deutschland oder England gelangen. Zu Fuss, auf dem Velosattel und vom Zug aus lernen die fünf Schüler die geographische Schweiz besser kennen. Sie lernen, was Teamarbeit bedeutet und machen damit die wertvolle Erfahrung, einander zu vertrauen. Das ist keine Selbstverständlichkeit für Flüchtlinge.
 


Eine weitere Passhöhe ist geschafft.

Ganz nebenbei kommen sie auf ihren Reisen mit der Schweizer Kultur in Berührung und lernen Deutsch sprechen. Sie kommen mit anderen Velofahrenden und Wandernden ins Gespräch, die genau wie sie mehrere Tage freiwillig unterwegs sind.

In der Natur unterhalten sie sich mit einem Jäger, der auf Hirschpirsch ist. Oder im Zug lernen sie einen pakistanischen Kontrolleur kennen, der ihnen seine Lebensgeschichte und von der Heirat mit einer Schweizerin erzählt. 

 

Ein Stück Freiheit für die Flüchtlinge

Etwas ganz Entscheidendes und von unschätzbarem Wert ist eine weitere Erfahrung: Das Veloprojekt bringt den jungen Männern Sicherheit und Freiheit. Sie können sich nun selbständiger bewegen und fahren mit dem Velo ins Training oder zur Schule.

„Ich kenne geeignete Velowege und Velorouten und habe gelernt, dass Velos im Verkehr eine Rolle spielen und ihren Platz haben, anders als in Afghanistan“, erzählt Ezharullah. Hayatullah sagt, dass er sich nun besser orientieren könne, wenn er Wege oder Strassen suche. Er folge den aufgemalten gelben Velografiken oder den roten Veloroutentafeln.

Alle stellen sie fest, dass Velofahren in der Stadt und in der Agglomeration einfacher ist als mit dem Auto, Tram oder Bus unterwegs zu sein. Sie haben gemerkt, dass Bewegung guttut. Velofahren hilft Spannungen abzubauen, insbesondere auf emotionaler Ebene.

„Ich habe Freude am Velofahren, ich kann es geniessen und mich anstrengen“, erklärt Popal. Schüler, die mit dem Velo zur Schule radeln, statt ÖV zu benutzen, sind im Unterricht wacher, sensibler und im Denken und Lernen beweglicher.
 


Fast am Ziel: Bellinzona ist nicht mehr weit.

 

Der lange Weg der Integration

Nun geht ihr Weg weiter, gefüllt mit einem Rucksack aus kulturellen, sprachlichen und emotionalen Erlebnissen. Alles entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Integration in der Schweiz. Die jungen Afghanen sind eingeteilt in verschiedene Brückenangebote.

Die einen sind nah dran an einer Vorlehre, andere besuchen gemischte Formen mit Arbeitspraxis und Schulunterricht. Erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt haben sie bereits in diesem Integrationsjahr gemacht. Nebst dem Veloprojekt und dem Schulunterricht haben sie verschiedene Schnupperlehren absolviert.

„Das ist sehr wichtig, damit sie ihre zweite Kultur akzeptieren“, erklärt Gerhard Weber und ergänzt: „Sie sollen eine Rolle in der Schweizer Kultur spielen“. Gerhard Weber ist sehr zufrieden mit seinen Schülern. Er wird nicht mehr ihr Lehrer sein, aber er wird ihren Weg weiterverfolgen. Er übernimmt wiederum eine Klasse mit unlängst zugereisten, unbegleiteten, minderjährigen Asylsuchenden und wird mit diesen neuen fremdsprachigen, nicht-alphabetisierten, schulunerfahrenen Schülern Velo fahren Richtung Integration.

 

Von: Anne Bernasconi, Projektleiterin Schule+Velo